Einleitung

Die vorliegende Studie hat die Anfänge der Kinematographie zum Thema. Damit wird erstmalig die erste Dekade des Films in Deutschland systematisch historisch analysiert. Am Beispiel der Reichshauptstadt Berlin wird für den Zeitraum von 1896-1905 die Etablierung des neuen, technischen Mediums nachgezeichnet. Quellengundlage der Analyse sind ausgewählte Publikationen der Berliner Massenpresse.

Film und Filmgeschichte waren und sind marginalisierte Themen des etablierten bundesrepublikanischen Wissenschaftsbetriebs. Dies gilt besonders für die quellenmäßig kaum zugängliche Zeit vor 1914. Ein Großteil der mühsamen Forschungen zur Frühgeschichte des Films und des Kinos in Deutschland wird deshalb - ebenso wie filmhistorische Forschungen zu anderen Epochen - außeruniversitär betrieben.
Im Anschluß an das Pionierwerk Siegfried Kracauers "Von Caligari zu Hitler" lassen es sämtliche filmhistorischen Überblicksdarstellungen - Gregor/Patalas "Geschichte des Films" von 1976 sei hier stellvertretend genannt - bei der kusorischen Erwähnung der Frühzeit. In seiner eigentlich sozialpsychologisch ausgerichteten Studie erklärte der in die USA emigrierte Filmkritiker die Zeit vor dem ersten Weltkrieg zur irrelevanten Früh - oder auch Vorgeschichte des Films. 'Das Kabinett des Dr. Caligari' 1918/19 galt ihm als der eigentliche Anfang der deutschen Filmgeschichte.

Der von Kracauer am filmischen Material entwickelte Filmkanon hat sich bis heute erhalten. Erst Anfang der neunziger Jahre setzte das von einer internationalen Forschungsgruppe initiierte Interesse an der lange Zeit vernachlässigten Frühzeit des Films in Deutschland ein. Sie beschäftigte sich allerdings bis auf die ersten Forschungen Martin Loiperdingers ebenfalls nicht mit der Etablierungsphase der Kinematographie in Deutschland. Das von ihm Sabine Lenk und Frank Kessler herausgegebene KINtop 'Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films' bietet seit 1991 ein in Deutschland einmaliges Forum zur Erforschung des frühen deutschen und internationalen Films.

Zu den recht gut erforschten Themen der Frühzeit können dagegen die Reaktionen der literarischen Intelligenz auf das frühe Kino zählen. Sie sind Gegenstand zahlreicher Forschungen. Ebenso kann die 'Kinoreformdebatte' zu den inzwischen gut bearbeiteten Gebieten der frühen Filmgeschichte zählen. Die kritischen Reaktionen bürgerlicher Beobachter - meist Pädagogen und Kirchenvertreter - auf das 'Phänomen' Kino und die Filminhalte ab 1907 waren wegen der massiven publizistischen Präsenz und Aktivitäten dieser gesellschaftlichen Gruppen, die leicht zugängliches Quellenmaterial hinterließen, Gegenstand zahlreicher filmhistorischer Forschungen.
Die Konzentration auf diese Schwerpunkte trug jedoch auch dazu bei, daß längere Zeit wenig andere Aspekte der Filmgeschichte von Interesse waren. So erschienen etwa die die Produktionsgeschichte der Frühzeit vor allem als Vorgeschichte der UFA-Gründung. Hierbei stand wiederum die ideologisch-politische Bedeutung dieser Firmengründung im ersten Weltkrieg lange Zeit - zu Ungunsten einer Analyse der ökonomischen Zusammenhänge - im Vordergrund. Neuere Forschungen die, im Anschluß an die Forderungen der 'new film history' entstanden, auch außerfilmisches Quellenmaterial zur Analyse heranziehen, existieren für den deutschen Sprachraum wenige. Bislang kann die Studie Corinna Müllers als der ambitionierteste Versuch gelten, formale Entwicklungen der Frühgeschichte des Films von 1907-1912 im Hinblick auf die Entwicklungen und Bedingungen der Filmwirtschaft und auf den gesellschaftlichen Kontext integrierend zu untersuchen. Die Studie von Maria Kilchenstein über die Filmzensur vor 1914 am Beispiel der Städte München und Berlin erschließt erstmalig auf breiter empirischer Basis die Handhabung und Auswirkungen der frühen Filmzensur im kaiserlichen Deutschland. Das in jüngster Zeit festzustellende Interesse an der Geschichte einzelner Filmfirmen im kaiserlichen Deutschland erschließt in Einzelstudien die Tätigkeit sowohl französischer Firmen , die bis 1911 eine marktbeherrschende Position einnahmen, als auch deutscher Firmen. Alle diese Studien sind jedoch wegen der extrem schwierigen Quellenlage - u.a. durch die Zerstörung der UFA-Lehrschau in Berlin - darauf angewiesen, die Rekonstruktion dieser Firmengeschichten mittels Tageszeitungen und Fachzeitschriften zu bewerkstelligen. Für die eigenständige deutsche Filmproduktion steht seit Jahren bereits der 'Filmpionier' Oskar Messter, dessen vollständig erhaltener Nachlaß auch die maßgebliche Quellengrundlage der neueren Arbeit von Corinna Müller bildet. Messter waren auch zahlreiche Publikationen und eine Ausstellung anläßlich des hundertjährigen Filmjubiläums gewidmet, in der er als Filmfabrikant, Techniker und Erfinder gewürdigt wird.

Bei allen Verdiensten der Forschung um diese sicherlich wichtige Person der frühen Filmgeschichte in Deutschland, überrascht doch oft der unkritische Umgang mit den Selbstäußerungen Messters, wie er sie vor allem in seinen 1936 erschienenen Memoiren niedergelegt hat. Die Selbstinszenierung Messters als 'Filmpionier' sowie sein Blick auf die Kinoverhältnisse in der deutschen Filmfrühgeschichte werden bis in die neueste Forschung oftmals unhinterfragt übernommen.
Einen weiteren Forschungsschwerpunkt in der deutschen Filmhistoriographie bilden die zahlreichen Lokalstudien zur Entwicklung des Kinos in einzelnen Städten oder Regionen. Hier findet die Zeit vor dem ersten Weltkrieg lediglich kusorisch Erwähnung. Dabei beschränken sich die Untersuchungen allerdings weitgehend auf die chronologischen Darstellung der Abspielstätten und der öffentlichen Resonanz auf die sensationellen ersten Filmvorführungen. Mehr oder weniger implizit liegt all diesen Studien die Annahme zugrunde, die schon von Zglinicki und Toeplitz konstatiert hatten: Die gesellschaftliche Orte der frühen Filmpräsentationen waren das Varieté und der Jahrmarkt.
Weiter ausgearbeitet werden diese Annahmen von neueren Arbeiten zum städtischen Freizeitverhalten um die Jahrhundertwende. Die industrialisierten Freizeitvergnügungen dieser Zeit, zu denen auch das Kino zählte, sind Gegenstand eines Sammelbandes über die 'Lustbarkeiten im Ruhrgebiet um 1900' . Kulturhistorische Forschungen haben in der Erforschung früher massenpopulärer Vergnügungen dem frühen Kino eine herausragende Bedeutung für die eigenständige Freizeitgestaltung der städtischen Arbeiterschaft zuerkannt - abseits von den Ansprüchen organisierter und 'sinnvoller' Freizeitgestaltung in Arbeiterbildungsvereinen und Parteilokalen.
Einzelstudien, wie etwa Wolfgang Jansens 'Geschichte des Varietés' bemerken jedoch die noch immer mangelnde Kenntnis der engen Zusammenhänge von frühen Film und Varieté. Im Bereich der Schaustellerei liegen mit den Arbeiten Gerd Taubes erste Ergebnisse über den Einfluß des neuen Mediums Film auf die Präsentationsformen des sächsischen Wandermarionettentheaters vor.

Die Anfänge der Kinematogaphie, der für mein Forschungsvorhaben gewählte Zeitraum von 1896-1905, war noch niemals Thema einer eigenständigen filmhistorischen oder gar geschichtswissenschaftlichen Untersuchung. Die Quellengrundlage der Arbeit sind hauptsächlich zeitgenössische Publikationen der Berliner Massenpresse. Die großen Berliner Verleger Scherl, Ullstein und Mosse hatten bis zur Jahrhundertwende die neue billige Massenpresse durchgesetzt. Seit der Reichseinigung hatte die Stadt sich zur modernen Metropole des Kaiserreichs entwickelt. Der Prozeß der Industrialisierung und Urbansierung und das damit einhergehende Bevölkerungswachstum sowie der massive Ausbau der verkehrstechnischen Infrastruktur hatten bis zur Jahrhundertwende zu einem qualitativen Umbruch im sozialen "Lebensweiserhythmus" der großstädtischen Bevölkerung geführt. Die großen Zeitungsverlage wurden neben den großen Firmen des Maschinenbaus (Borsig), der Chemie (Schering, Agfa) und der Elektroindustrie (Siemens, AEG) zum Signum der modernen Metropole. Die historiographischen Forschungen zu wirtschaftlichen, kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Aspekten dieser Entwicklung sind kaum überschaubar. Zahlreiche Fachgebiete haben zum Wissen über den modernen Charakter der kaiserzeitlichen Hauptstadt beigetragen. Die Position des jungen technische Mediums der Kinematographie in diesem großstädtischen Gefüge sind dabei aber bislang nicht von Interesse gewesen. Die Forschungen zur frühen Film- und Kinogeschichte Berlins ihrerseits hat sich mit ihren Fragestellungen immer sehr eng an Ihren Gegenstand gehalten und selten nach der gesellschaftlichen und kulturellen Einbindung der Kinematographie gefragt.
Bei der Einarbeitung in das Thema bin ich zunächst davon ausgegangen, daß die systematische Auswertung zeitgenössischer Tagespresse eine gute Quellengrundlage für die Erschließung des Themas wäre. Die erste Sichtung ausgewählter Tagespresse , v.a. des 'Berliner Lokal- Anzeiger', bot jedoch ein anderes Bild. Lediglich in den standardisierten Mitteilungen der reklametreibenden Vergnügungsindustrie tauchte die Kinematographie als fester Bestandteil der unterschiedlichen Programme auf. Sie wurde weder besonders hervorgehoben, geschweige denn in irgendeiner Art und Weise besprochen.

Im ersten Kapitel dieser Arbeit wird diese Position der Kinematographie in der Tagespresse erstmalig näher analysiert. Deutlich wird dabei nicht nur die Bindung an standardisierte Formen der reklametreibenden Vergnügungs-industrie. Falls es dennoch einmal zu einer inhaltlichen Nennung der kinematographischen Bilder kam, wurde sehr schnell die selektive Wahrnehmung der Tagespresse im Hinblick auf die Kinematographie deutlich. Die Tagespresse erwähnte fast ausschließlich diejenigen Filme, die einen nachrichtenwerten Charakter hatten. Thematisiert wurden meist politische und gesellschaftliche Ereignisse, die ihrerseits in der Presse Themen waren.
Durch die Hinzuziehung anderer Zeitschriften - meist illustrierter- Familien und Unterhaltungsblätter und der Zeitschriften der Schausteller und Artisten , konnte ich den medialen Kontext des kinematographischen Ereignisses rekonstruieren. Zugleich ließen sich Aussagen treffen über die sozial unterschiedlichen Rezeptions- und Mentalitätsgeschichte der großstädtischen Bevölkerung.

Im zweiten Kapitel werden spezifische Formen des großstädtischen Vergnügens analysiert, in deren programmatischen und sozialen Kontext die Kinematographie stand. Die großen Varietés der Reichshauptstadt waren die ersten festen Abspielstätten der Kinematographie vor der Etablierung der Ladenkinos ab 1905/06. Die propagandistischen Veranstaltungen des Deutschen Flottenvereins stellten eine spezifische Nutzung der Kinematographie im Kontext der Programme vor, die dieser den Besuchern seiner Veranstaltungen zur Unterhaltung und Belehrung anbot. Erstmalig steht zudem für die Varietés, als auch für den Flottenverein, das Publikum im Mittelpunkt der Analyse.
Das abschließende dritte Kapitel weist hin auf eine spezifische Nutzung der Kinematographie im Kontext der Wohltätigkeitsveranstaltungen der 'Guten Gesellschaft'. Diese bislang nicht erforschte Form der Vergnügungskultur im kaiserzeitlichen Deutschland wird hier erstmalig vorgestellt.

Bei der Erschließung der jeweiligen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte der in den Quellen aufgefundenen Informationen zeigte sich schnell die problematische Forschungslage. Die Gebiete, die ich bei der Suche nach der Kinematographie der Jahrhundertwende streifte, gehörten nicht zu den bevorzugten Themen der historischen Wissenschaften der letzten Jahren. Die außenpolitsche Geschichte des Kaisereichs war lange Zeit zu Gunsten einer Sozialgeschichte in den Hintergrund gedrängt. Erst in jüngster Zeit werden (außen)politische Fragen wieder aufgegriffen, (z.B. Canis) die aber auch den politischen Mentalitäten keine Aufmerksamkeit schenken. Die Erforschung einer Mentalitätsgeschichte von 'Oben' - zu der die Vergnügungen der oberen Schichten in den Varietés und auf den Wohltätigkeits-veranstaltungen gezählt werden können - steht ebenso noch aus (U. Daniel).
Die Auswertung der Massenpresse auf der Suche nach der Kinematographie der Jahrhundertwende öffnete den Blick auf diese Forschungsdesiderate und zeigte die großstädtische Kinematographie um 1900 als Bestandteil der unterschiedlichen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Formationen.