1.1 Orte und Programme

Die großen Berliner Varietés 'Wintergarten' und 'Apollo' erwiesen sich als die bevorzugten regelmässigen Vorführstätten der Jahrhundertwende-kinematographie in der Reichshauptstadt. Mit beiden Namen verbinden sich einschneidende kinematographische Vorführungen. Bis zum heutigen Tag ist der 'Wintergarten' mit den legendären ersten Filmvorführungen der Brüder Skladanowsky im November 1895 in Erinnerung. Mit ihren Bioscopprojektionen, die sich technisch nicht gegen die zeitgleich entwickelte kinematographische Technik der Brüder Lumiere durchsetzte, konnte sich das Berliner Erfinderpaar aber nicht im 'Wintergarten' etablieren. Die Skladanowskys zogen weiter als Wanderschausteller durch die Welt , ihre Vorführungen im Wintergarten blieben nach den Vorführungen im November 1895 der darauffolgenden Zeit lediglich sporadisch nachweisbar und spätestens 1897 war der Projektor der 'American Mutoskop and Biograph Company' fester Bestandteil des Wintergartenprogramms.

    "Der American=Biograph wird im Wintergarten=Theater in Berlin zum ersten Male vorgeführt werden. Es ist Edison gelungen, daß Flimmern der kinetographischen Bilder total zu vermeiden und die bisher auf solchen Darstellungen stets sehr beschleunigte Bewegung der Figuren durchaus auf das natürliche Maß zurückzuführen und auf diese Weise ein großartiges, absolut täuschendes Bild natürlichen Lebens und Treibens zu erreichen. Aus der großen Serie der Aufnahmen seien einige wenige besonders hervorgehoben. Man sieht den Niagarafall, dessen enorme Wassermassen sich zerstäubend auf die Felsen herniederstürzen, und glaubt sein Donnern und Brausen zu hören; man beobachtet das Ausrücken der New Yorker Feuerwehr und alle Einzelheiten des reichbewegten Straßenlebens; man sieht aus weiter Ferne - von Sekunde zu Sekunde wachsend - den Rapid der Pacificbahn heranjagen. Von besonders intimen Reiz soll ein Bild sein, das Mac Kinley in seinem Garten darstellt und zwar in dem Augenblick, wo er das Resultat der Präsidentenwahl erfährt. Die Vorführung des unvergleichlichen Apparates, dessen Zusammensetzung streng geheim gehalten wird, ist für Berlin ausschließliches Recht der Direktoren Dorn und Baron."

Offensichtlich erstmalig in Europa kam der technisch qualitätvolle Projektor im August 1897 im 'Wintergarten' anläßlich einer Wohltätigkeitsveransatltung zum Einsatz.

    "[...] Zum ersten Male in Europa! The American Biograph (nach Edison). Alles, was bis jetzt auf dem Gebiete d. lebenden Photographien gezeigt wurde, thurmhoch überragend [...]"

so annoncierte die Direktion des 'Wintergarten' im Berliner Börsencourier am 15. August 1897. Die Vorführungen des 'Biographen' bildeten bis zum Ende meines Untersuchungszeitraumes einen festen Bestandteil des 'Wintergarten-programms'.
Im 'Apollo' wurde im Dezember 1896 der Kosmograph des Berliner Erfinders und Filmpioniers Oskar Messter installiert. Hier wurden auch dessen sogenannte Tonbilder Ende August 1903 erstmalig aufgeführt.

Der 'Wintergarten' war im Zuge der Aufstiegs Berlins nach der Reichseinigung 1871 zur industriellen und kulturellen Metropole entstanden. Mit dem Ausbau des Verkehrschienennetzes seit der Reichseinigung war Berlin auch zum Verkehrsknotenpunkt zwischen Ost und West geworden. Gegenüber dem neuen Zentralbahnhof Friedrichstraße wurde am 1. September 1880 das Central Hotel als eines der ersten Grand Hotels der Reichshaupstadt eröffnet. Betuchten ankommenden Gästen wurde damit eine leicht erreicbbare Übernachtungsmöglichkeit im Zentrum geboten. Es entstanden 700 Zimmer, daneben Salons und Festsäle. Eine große Attraktion des Hotels war der Palmengarten. An der Rückseite des Hotels, als Teil des Palmengartens, befand sich der Wintergarten. Auf einer Grundfläche von 2.182 Quardratmetern befanden sich Eintritts - und Garderobenräume, drei Restaurationssäle, eine Theater - und Konzertbühne mit Ankleidezimmern. Der Wintergarten wurde auf einer rechteckigen Fläche von 74,74 Metern Länge mal 22,66 Metern und einer Höhe von 17,50 Metern von einem sattelförmigen Glasdach bekrönt.

Von Anfang an plante man ein "Concert - und Restautations- Local [...] welches in jeder Jahreszeit einen gartenartig mit Grün geschmückten, gut beleuchteten und belüfteten, mäßig erwärmten Raum nach Art der Pariser Café Concerts bieten soll, in welchem die Besucher zwanglos an Tischen sitzend, allabendlich musikalische oder mimische Vorstellungen genießen können, ohne von der in unserem Klima so unbeständigen Laune des Wetters abhängig zu sein." Außerdem waren Bälle und Ausstellungen geplant und für große Feste konnte ein transportabler 500 Quardratmeter großer Tanzboden aufgebaut werden. Die Dekoration des Wintergartens mit Grotten und immergrünen Strauch- und Schlingpflanzen lag in den Händen des Hofgärtners Bock. Aufgestellt wurden zudem zahlreiche Gasleuchten und durch das Glasdach schimmerte nachts der Sternenhimmel. Das Publikum konnte den Wintergarten entweder über das Hotel, dessen Eingang an der Georgenstraße lag, erreichen oder aber direkt über die Dorotheenstraße dorthin gelangen . Im Oktober 1880 fanden bereits die ersten Veranstaltungen statt und als 1882 die Stadtbahn mit zweijähriger Verspätung fertiggestellt worden war, kam auch das einheimische Publikum. Dennoch waren die Veranstaltungen der ersten Jahre des Wintergarten keine Publikumserfolge; sogar mit Freibillets konnte die Direktion kein Massenpublikum anlocken.

Bis zum Sommer 1881 waren es hauptsächlich Konzertveranstaltungen gewesen, die zunächst unter der Leitung des königlichen Kapellmeisters A. Parlow und ab Frühjahr 1881 von der lokalen Berühmtheit Theodor Franke veranstaltet wurden. Im Sommer 1881 ergänzte die Direktion das Konzertprogramm erstmals um eine musikalische Varieténummer und danach stand der Walzerkönig Johann Strauß am Dirigentenpult. Bis zum Herbst des Jahres hatte sich der Wintergarten als luxuriöser musikalisch-unterhaltender Veranstaltungsort etabliert, der die wohlhabenden bis reichen Kreise Berlins anzog. Bis 1886 genoß dieses Publikum die überwiegend musikalische Unterhaltung im Wintergarten. Im Palmengarten flanierend oder an den Tischen sitzend, von wo es von den anliegenden Restaurationsräumen versorgt wurde, hörte das Publikum die musikalischen Potpurris. Sie bestanden aus den gängigen und beliebten Unterhaltungsmelodien von Gassenhauern, Märschen, Operettenovertüren bis zu Opern und symphonischen Werken. Man hatte im Laufe dieser Zeit immer mehr Bestuhlungen aufgestellt und somit war die großzügige Begrünung des Palmengartens immer mehr in den Hintergrund gedrängt worden. Die Zweckmäßigkeit der Raumaufteilung stand damit zur Disposition und die Direktion verfiel auf die Idee, sich an den beliebten hauptstädtischen Varietéveranstaltungen zur orientieren und ein eigenes Varietéprogramm - für ein gehobenes Publikum - zu gestalten. Im Herbst 1897 gab es erstmals ein varietéübliches Programm im Wintergarten: Reckturner, Stimmimitatoren, Ventriloquisten, ein Damenimitator, Soubretten, Pistonbläser, eine Illusionistin und die Balletszene "Der Raub der Chloé" wechselten sich in rascher Reihenfolge ab. Das neue Konzept ging auf: 1888 - nachdem die Bühne technisch umgerüstet worden war - wurde die Varietékonzession erteilt. Anfang der neunziger Jahre war der Wintergarten das bekannteste Varieté in der Reichshauptstadt. Von Anfang an wurden internationale Stars engagiert, die vor Einheimischen und Touristen, im meistens ausverkauften Haus, umjubelt worden.

Das 'Apollo', am unteren Ende der Friedrichstraße und damit nicht so verkehrsgünstig gelegen wie der 'Wintergarten', war 1892 als Variéte eröffnet worden. In den beiden Jahrzehnten zuvor war auf dem Grundstück Nr. 218 bereits musikalische Unterhaltung geboten worden und der Ort war dem gehobenen Berliner Publikum lange vor der Eröffnung als Variéte als Ort des Vergnügens und der Unterhaltung bekannt. Seit 1872 hatte es dort ein Unterhaltungsangebot gegeben, das zunächst als Sommerkonzertgarten betrieben worden war, dann aber um einen wetterunabhängigen Saalbau ergänzt worden war. Seit 1874 war somit ein ganzjähriger Betrieb möglich, der neben dem Unterhaltungsangebot - Musik, Bälle und zwei Billardzimmern - einen Restaurationsbetrieb bot.
1877 hatte man bereits, unter den Namen 'Olympia', eine Theaterkonzession für ein regelrechtes Variéteprogramm erhalten, das im Dezember des Jahres zum ersten Mal über die Bühne ging. Obwohl die Variétes zu dieser Zeit stark an Popularität gewannen und sicheren Gewinn für ihre Betreiber zu versprechen schienen, konnte sich das 'Olympia' nur einige Monate halten. Unter dem neuen Namen 'Berliner Flora' kehrte man 1878 zu einem musikalischen Unterhaltungsprogramm zurück. Mit dem Engagement der beliebten Sängergruppen ging man kein dabei kein großes finanzielles Risiko ein. Endgültig zum Variéte gestaltete Adolf Düssel die Bühne um, der 1884 das Geschäft übernahm. Als 'Concordia' bot sie dem Berliner Publikum instrumentale und vokale Musik, kombiniert mit den unterschiedlichsten akrobatischen und komischen Nummern. Das Concordia stieg in den 1880er Jahren - neben dem 'Theater der Reichshallen', 'Kaufmanns Variéte' und dem 'American - Theater' - zu den angesehensten Vergnügungsorten Berlins auf. Das 1892 eröffete 'Apollo' konnte sich damit auf den durch das 'Concordia' erworbenen Ruf als gutes und beliebtes Unterhaltungsangebot der Reichshauptstadt stützen. Die Eröffnung des Theaters geriet zwar zu einem gesellschaftlichen Ereignis; dennoch dauerte es noch zwei weitere Jahre bis eine neue Direktion mit dem Komponisten Paul Lincke eine unschlagbare Attraktion für das Haus gefunden hatte. Mit der Einführung der 'Berliner Operette' verließ man die für die Variétes typische Nummernfolgen und man bot dem Publikum, anderes als etwa im Wintergarten, eine typische Spezialität, die das Haus als Varieté erheblich von den anderen Bühnen unterschied. 'Verkehrte Welt' oder 'Frau Luna' 'Lysistrata' und 'Don Juan in der Hölle' seien als Beispiele für die jeweils mehrere hundert Male zur Darstellung gebrachten Stücke genannt.
Wie bereits erwähnt kam es hier im Dezember 1896 zu den ersten Filmvorführungen durch Oskar Messter, die in den nächsten zehn Jahren hier regelmässig über die Leinwand flimmern sollten. Für meinen gesamten Untersuchungszeitraum sind Messter's Vorführungen nachweisbar und nur selten berichteten die Zeitungen und Zeitschriften von anderen Vorführern, die im 'Apollo' zum Zuge gekommen wären.
Daß im 'Apollo' "der artistische Teil immer kleiner und der Rahmen der Operette immer größer" wurde, hatte auch Auswirkungen auf die Plazierung der vorgeführten filmischen Nummern und der anderen 'Spezialitäten.' Der Abend im 'Apollo' bestand - anderes als z.B. das klassische Varietéprogramm - aus zwei Teilen. Meist befand sich das Spezialitätenprogramm am Anfang, daran schloß sich die 'Berliner Operette' an und zum Schluß gab es die Filmvorführungen des Messterschen Kinetographen bzw. Kosmographen. Im Laufe der Zeit verloren im 'Apollo' jedoch die filmischen Nummern offenbar ihre - für die Anfangsjahre der Variétekinematographie charakteristische Funktion- als bequemer 'Rauschmeißer' zum Ende des Programms.

    "Recht gut macht sich die neue Einrichtung, dass die verschiedenen Kinematoskop - Nummern nicht mehr zum Schlusse des ganzen Abends kommen, sondern zwischen die einzelnen Spezialiätennummern eingereiht sind. Nach jeder Nummer kommt ein Bild, beziehungsweise eine abgeschlossene Serie, zuerst das Unglück auf Martinique, dann der Torpedo-Zerstörer in Thätigkeit, ferner Andrées Nordpolfahrt und zum Schlusse ein australisches Schildkrötendepot."

Die formale Ähnlichkeit der einzelnen Filmstücke mit den kurzen Nummern der Variétenummern hatte die Regie offenbar dazu bewogen, die Programmumstellung vorzunehmen. Dennoch konnte sich die Idee nicht auf Dauer durchsetzen. Spätere Artikel berichten wieder von der Plazierung des filmischen Nummernprogramms am Schluß der Vorstellung. Als im 'Apollo' die Meßterschen Tonbilder für Furore sorgten, gab es - möglicherweise aus technischen Gründen - ein Pause zwischen der Operette und den filmischen Vorführungen:

    "Kaum ist der Liebesinsel =Traum
    beendet in Apollos Raum
    Das Publikum, weil ganz betäubt,
    Vergaß, daß man Oktober schreibt,

    Und nach der großen Pause dann,
    wo jeder durst'ge Pilgersmann,
    Alldieweil der Durst so groß,
    Trinkt einen Schoppen, ganz famos,

    Ertönt laut der Schelle Ton!
    Wir sehen Meßter's Biophon
    In Sprache und Bewegung dann,
    Wie's Edison nicht besser kann.

    Ich sprach ja neulich schon davon,
    Famos ist Meßter's Biophon!
    Dann kommt die Mirz'l aus Tirol,
    Sie singt recht nett, doch scheint es wohl,
    Als wenn ein Motogirl sie wär."

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